Northern Soul

elitäres Hobby, Leidenschaft oder Stilrichtung?

Was ist Northern Soul? Auf keinen Fall eine herkömmliche Umschreibung einer Stilrichtung, die sie gegenüber anderer Musik abgrenzt. Northern Soul ist ein Phänomen, eine Subkultur, eine Leidenschaft einiger weniger Enthusiasten weltweit. Northern Soul kann viel sein: von spätem R&B bis in den eher glatten Soul der 70er zieht sich die Palette der Musik, die dieses Etikett aufgedrückt bekommt. Eines ist Northern Soul allerdings immer: rar, tanzbar, leidenschaftlich und fangetrieben.

Geburtsstätte des populären Soul, Motown in Detroit: Labelchef Berry Gordy am Piano, rechts Stevie Wonder, hinten Smokey Robinson

Verwirrung allenthalben: Wie kann eine Musik einen Namen haben und keiner erklärt, wie sie sich von anderen musikalisch abgrenzt? Das geht auf die Entstehung dieser Subkultur zurück. In England etablierte sich in den 60er Jahren eine Clubkultur rund um Soul-Music, zu einer Zeit, in der ein Label wie Motown aus Detroit den Soul populär machte. Das Label des Berry Gordy passte die ursprünglich typisch schwarze Musik, entstanden aus Rhythm & Blues und einer lebendigen Gospelkultur, an den Geschmack weißer Bevölkerungsschichten an und verzeichnete so massive kommerzielle Erfolge. Böse Zungen reden in diesem Zusammenhang von "whitebread soul" (Weißbrot-Soul), als Vorwurf der Anbiederung, u.a. des Produzentengespannes Holland-Dozier- Holland an den weißen Massengeschmack. Motown wurde so zu einem Synonym für einen weitgehend einheitlichen Sound für Bands wie The Temptations, The Supremes oder Martha Reeves & The Vandellas. Der Erfolg dieser Art von Soul war in England vergänglich und wich Progressive Rock, Funk und ähnlichem.

In ganz England? Nein! Im Norden hielten einige Djs am diesem Sound fest. Sie suchten gezielt nach rareren Werken, die in den USA massenhaft von Glücksjägern mit mehr oder weniger großem Erfolg auf den Markt geworfen wurde. Vom großen Erfolgskuchen wollten zu dieser Zeit viele schwarze Produzenten ein Stück abbekommen. So entwickelten die nordenglischen Djs eine Gegenkultur zu den vorherrschenden Klängen, die Soul aus den Charts verdrängt hatten. Gegenkultur? Nun gut, da haben wir sie: unsere geliebte Subkultur. Eine Rückbesinnung auf raueren und ursprünglicheren, in der Überzahl schwarzen amerikanischen Soul zwischen R&B und Funk.

eine von vielen tragischen Figuren des Soul: Tammi Terrell (1945 -1970)

Die Allnighter in Nordengland wurden zur Institution, bei denen sich in Clubs, wie dem Wigan Casino, oft mehr als 1.000 Tänzer die Nächte um die Ohren schlugen. Fans reisten Hunderte von Meilen, um das zu hören, was von den DJs an rarem Soul aus den Staaten besorgt wurde. Ihr merkt etwas? Nordengland... Northern Soul... Ihr habt es, Dave Godin, ein englischer Musikjournalist, beschrieb 1970 den so entstandenen Clubsound als Northern Soul, da sich dieses Phänomen noch auf den Norden der Insel beschränkte. Die Anziehungskraft der Allnighter-Kultur hat in good old England nur wenig nachgelassen. Neben einigen Fossilien der Szene, die noch immer das Tanzbein schwingen, tanzen dort junge Fans und oft sehr viele Soul-Touristen. Northern Soul schwappte zwar in den 80ern auch nach Kontinentaleuropa, fristet hier aber im Vergleich zu England eher ein Schattendasein. Man sollte allerdings erwähnen, daß sich erst in den letzten Jahren eine breitere Akzeptanz für Sounds durchgesetzt hat, die es in den Anfangsjahren nicht gab: ruhiger (Mid-Tempo) Soul, Rythm & Blues, Beat-Balladen, 60s-Neuentdeckungen, Modern Soul, und anderes. Noch nie war Northern Soul so abwechslungsreich und wahrscheinlich auch nicht so qualitativ hochwertig wie heute, was man inzwischen auch an den Sets deutscher DJs merkt.

Im Import der Platten aus den Staaten ergibt sich auch die Besonderheit des Northern Soul: Du kannst diese Platten nicht im Laden an der Ecke besorgen. Vielmehr gilt ein Stück um so besser, desto rarer es ist. 50 Euro für eine Original-Single sind nichts Besonderes und extrem seltene Scheiben, von denen manchmal vielleicht gerade einmal zwei Exemplare bekannt sind, wechseln für mehrere Tausend Pfund den Besitzer. Natürlich ist es nicht unvereinbar, diese Musik zu sammeln und tanzenderweise zu lieben. Man kann zum Beispiel auf ein beachtliches Arsenal von Nachpressungen zurückgreifen, wenn das Originalstück zu teuer, oder schlicht nicht erhältlich ist. Allerdings sollte man die Reaktion einiger DJs sehen, wenn auf deutschen Veranstaltungen eine Nachpressung aufgelegt wird. Tja, das ist unter Umständen anstößig! Dass das Auflegen von CDs verpönt, wenn nicht gar ein Affront ist, ist nachvollziehbar: Leidenschaft lässt sich nicht digitalisieren! Diskussionen, die früher unvorstellbar waren, aber mit den Samplerserien von Kent seit den 80er Jahren, oder Nachpressungen von Goldmine und Stardust auch hier nun geführt werden.

In Deutschland, dass im Gegensatz zu England nicht über eine 40jährige Black-Music-Clubkultur verfügt, entsteht die Spannung zwischen dem Anspruch, rare Musik zu spielen und der Benutzung von Material, dass bekannt genug ist, um eine Tanzfläche zu füllen. So z.B. Gloria Jones Meisterwerk "Tainted Love", das als Coverversion von Softcell in den 80ern zu Weltruhm kam. Mangels Stammpublikum sehen sich die Veranstalter oft gezwungen, ihren Sound an die Hörgewohnheiten des Laufpublikums anzupassen.

Live Northern Soul zu erleben, dürfte schwer werden. Wo in England auf großen Allnightern, wie z.B. in Cleethorpes, noch original Live-Acts auftreten, ist so etwas in Deutschland selten. Man kann natürlich mutig sein, um z.B. sich zur Mainstream-Band The Surpremes zu begeben, um Northern Soul von Edwin Starr live zu hören. Oder man begibt sich auf das Konzert einer Coverband. Soul-Cover-Bands gibt es zwar zu Dutzenden im studentischen Milieu, allerdings wissen die wenigsten um Northern Soul und oft mangelt es diesen Heulbojen auch noch an Druck und Leidenschaft. Reine Northern Bands hat es ein paar wenige gegeben. Nachdem Wigan Casino aus Italien nach Ihrem Beitrag auf einem Moloko Plus Sampler offenbar vom Erdboden verschluckt wurden, fällt mir nur eine Liveband ein: die zugegebenermaßen großartigen The InCiters! aus San Francisco. Die größte Terminübersicht der deutschen Szene findet Ihr auf soulallnighter.com.

Und, was für Leute trifft man auf einem Soulnighter? Die Fans sind hier in Deutschland wenig homogen: der alltagssportlich bis schick gekleidete Soulie, Scootergirls and -boys, Skingirls, Skinheads und Mods drehen nebeneinander ihre Runden auf dem Parkett unter der Spiegelkugel, bis irgendwann dieses herrliche Hochgefühl "feeling fine" einsetzt, was nur nach einer ausreichend lang durchtanzten Nacht passiert - vorrausgesetzt, es läuft Northern Soul.

Joe Travolta mit Dank an DJ Peanut Vendor, Soulsurgery, L.E.