Die wunderbare Welt der Gebärdensprache - Teil 1

Unser freier Mitarbeiter, der alte Haudegen und dirty old man from Vorstadt, Meia hat, wie wahrscheinlich so einige von Euch wissen, vor einiger Zeit schon fast nackt vor seinen Schöpfer treten müssen. Doch statt ins ewige Jenseits zu verschwinden ist er in das Reich der Stille eingetreten und muss sich nun mit ganz neuen Problemstellungen herumschlagen. So z.B. das für den gesunden Menschen selbstverständlich zu bestehende Abenteuer Kommunikation. Lest hier, welche Dinge ihm auf dem Weg zurück zu einem Stück Normalität widerfahren sind.

17.02.05

Heute ist ein großer Tag. Die erste Stunde des Kurses "Gebärdensprache für Anfänger" in der VHS Siegburg steht an. Was für mich als gesunder Mensch nichts Außergewöhnliches war und unter ferner liefen gebucht wurde, ist jetzt etwas Besonderes. Dank der Hilfe mir freundlich gesonnener Menschen muss ich mir wegen Transport und Erreichung der VHS keine Gedanken machen. Hiermit ist eine nicht zu unterschätzende Last von mir genommen.
Der Kurs findet im ersten Stock statt. Die Treppe dorthin ist in folge meiner Gleichgewichtsstörungen eine wirkliche Hürde, die aber überwunden wird. Dem Lehrgang folgen neben mir zehn weitere Menschen, der Grossteil weiblich. Außer mir sind nur zwei Teilnehmer männlichen Geschlechts. Die Dauer ist anderthalb Stunden, ohne Pause dazwischen. Die Dozentin ist selber gehörlos, verlor ihr Gehör im Alter von zwei Jahren. Also hatte sie mehr zeit als ich zu üben, während sie Gebärdensprache lernte, war das für mich kein Thema, denn ich hörte jahrzehntelang.
Am Anfang stehen die Grundlagen, diese sind grob gesagt Gesten die Wörter und ganze Sätze bilden können, zur Unterstützung dienen Mimik und Lautbildung mit den Lippen, Eigennamen werden mittels Fingeralphabet buchstabiert und vermittelt, man nennt dies fingern.
Das Ganze erinnert daran wie man sich einem Menschen anderer Sprache als hörender verständlich macht. Zu frühes erscheinen hatte die Folge einer Beobachtung des vorangegangenen Kurses für Fortgeschrittene. Mich beeindrucken die Ausdrucksformen dieser Sprache, die lautsprachenähnliche Kommunikation ermöglicht.

24.02.05

Zweite Unterrichtseinheit. Die Verantwortlichen der VHS haben gesehen dass ich nicht so gut zu Fuß bin und deswegen den Kurs in das Erdgeschoss verlegt. Das kommt mir zugute.
Das Fingeralphabet beherrsche ich, alle einunddreißig Zeichen habe ich im Kopf. Die Dozentin verteilte zu Anfang zwar eine kleine Karte mit der Darstellung der einzelnen Buchstaben, aber da das verstehen von Zeichnungen zum teil eine Interpretationsfrage ist, besorgte ich mir eine zweite Anschauungsmöglichkeit aus dem Internet, ein gutes Vorgehen wie ich fand.
Obwohl ich mich nicht für geistig zurückgeblieben halte, in den letzten zwei Jahren recht schnell verstand wenn ich wusste worum es ging, habe ich Schwierigkeiten zu folgen. Die Ursachen sehe ich darin dass ich noch nie ein besonderes Faible für Fremdsprachen hatte, meine fehlende Ahnung im bereich nonverbale Kommunikation, sowie dass ich durch den Verlust des Hörens nicht in der Lage bin auf normale Kommunikation als Ausweichmittel zurückzugreifen.
Trotzdem bin ich guter Dinge, die Dozentin versteht sofort meine durch Fingeralphabet buchstabierten Worte, weiß was ich will und denke. Das freut mich, so wie immer wenn ich einem anderen Menschen den Inhalt meiner Gedanken erfolgreich verständlich machen kann. Zum Ende der stunde verspüre ich extremen drang zum Wasserlassen. Da die Herrentoilette im ersten stock liegt erscheint ein einnässen wahrscheinlicher als pünktliches erreichen. Aufgrund des Notstandes kommt die Damentoilette in Frage. Interessant finde ich die automatische suche der Augen nach einem Pissbecken, doch schnell wird mir klar, dass dieses an einem solchen Ort nicht zu erwarten ist. Das Projekt Blasenentlehrung verläuft zufriedenstellend, ich verursache keine Flecken oder Verunreinigungen jedweder Art. Alle sind zufrieden.

03.03.05

Dritte Stunde des Kurses, wieder wird mir bewusst wie sehr ich auf das hören fixiert bin, diese Fähigkeit die ich jahrzehntelang benutzt habe. Jetzt da die Augen die einzige Informationsquelle
sind, bin ich auf Fehlerfreiheit der Gesten angewiesen, da mein kleines Gehirn mit der Zuordnung der richtigen Begriffe voll ausgelastet ist. Fehler erkenne ich nur in Ausnahmefällen, meist führen sie zu zusätzlicher Verwirrung. Trotzdem erste Konversation (euphemistisch, würde eher sagen gestikuliertes brabbeln) möglich. Gebärdensprache reizt mich, möchte mehr können, bin zuversichtlich.
Nach Ende der stunde wieder Damentoilette besucht, ebenso wieder nach einem Pissbecken gesucht. Kann und will nie eine Frau werden. Lieber eine Herrentoilette benutzen. Ja.
Der Fahrer verliert übrigens später am Abend seinen Führerschein. Aber da schlafe ich schon.

10.03.05

Nun sind einfache Formen und Gesichter Schwerpunkt. Es geht weniger um feststehende Gesten als um freie Beschreibungen, praktisch mehr ein reden mit den Händen, die Füße bleiben unter dem Tisch und beschäftigungslos.
Für meine Verhältnisse halte ich mich gut, obwohl mir die Möglichkeit zur Zwischenfrage fehlt. Als alle nacheinander an die Flipchart müssen, will ich zuerst auch, dann bringt mir die Dozentin ein Blatt Papier. Offensichtlich ist zwischen dem überdimensionalen Notizblock und dem Lehrerpult nur Platz für einen aufrecht stehenden Menschen, nicht für einen Rollator.
Nach der Stunde fühle ich einen Wasserstand knapp bis zum Hals. Schon wieder auf die Damentoilette, diesmal auf Vorschlag einer Frau. Automatische Pissbeckensuche gelassen, als Frau fühle ich mich trotzdem nicht.

17.03.05

Mir fällt auf der einzige Gehörlose neben der Dozentin im Raum zu sein, alle anderen können hören. Da man wissen muss um was es geht, ist es kein Wunder, wenn ich aufgrund von Verständnislosigkeit den Faden verliere. Die Lehrerin hat jahrzehntelange Übung in Gebärdensprache, die Mitschüler hören und können sich gegenseitig helfen, ich bleibe außen vor.
Erneut die Damentoilette aufgesucht. Langsam gewöhne ich mich an die Nutzung einer Kabine zwecks pissen. Mich beruhigt die Tatsache das diesem Regelbruch ein Notstand und nicht Übermut zugrunde liegt.
Nach der Stunde die gewohnten Schwierigkeiten des Alltags. Zu Hause ist der Fahrstuhl defekt, der Fahrer weg und auf mich wartet niemand. Ich stehe vor der Entscheidung entweder unter den Briefkästen die Nacht zu verbringen oder es selber zu versuchen. Entscheide mich für letzteres.
Der Aufstieg in den vierten stock dauert länger als früher. Verständlich, da ich mich aufgrund der Gleichgewichtsstörungen mit einer Hand festhalten und mit der anderen den Ersatz für körperliche Sicherheit (Rollator) tragen muss. Aber ich schaffe es, auch wenn es mir wie Stunden vorkommt.

Die VHS hat wegen Osterferien zwei Wochen geschlossen, die Stunden fallen aus. So sehr wie ich dies begrüße, so sehr bin ich doch erstaunt. Ferien sind meines Erachtens nur für Kinder wichtig und da kein Thema, wenn es um Erwachsenenbildung geht, finde ich das eher ärgerlich als vonnöten. Zeitverschwendung.

07.04.05

Sechste Unterrichtseinheit. Schwerpunkt Grammatik der Gebärdensprache. Diese ist ähnlich wie im Englischen und Japanischen. Namen und Bezeichnungen werden zuerst genannt, dann folgen Tätigkeiten. Tue mich ein wenig schwer damit, da ich kein englisch oder japanisch beherrsche. Verstehe es aber. Die kommunikative Isolation ist gravierender. Nach dem Kurs wird die Toilette von zwei Teilnehmerinnen aufgesucht. Da diese umfangreichere Rechte besitzen warte ich draußen, obwohl mir das Wasser bis zum Hals steht. Einnässen unterdrückt, auch wenn dies einfacher wäre. Denke in der Wartezeit an Bettflaschen.

The Meia